Cover
Titel
Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Elberfeld, Jens
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
703 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Dörre, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Als Beitrag zur Erforschung des „Psychobooms“ konzipiert, ist Jens Elberfelds Arbeit über die westdeutsche Familientherapie ein thesenstarkes Buch geworden. Im Mittelpunkt steht ein psychotherapeutischer Ansatz, dessen heutige Ausprägung, die Systemische Therapie, im November 2018 bedeutend aufgewertet wurde. Sie steht neben der Psychoanalyse, der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der Verhaltenstherapie nun im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Elberfeld erörtert in seiner überarbeiteten Bielefelder Dissertationsschrift den Entstehungskontext der Familientherapie um 1970 und beschreibt die Entwicklungen für die nachfolgenden zwei Jahrzehnte. Das Buch bietet aber noch weit mehr: Elberfelds Interpretation der Geschichte der westdeutschen Familientherapie lässt sich – so kündigt es der Untertitel zu Recht an – als eine „Wissensgeschichte der Therapeutisierung“ seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert lesen.

Es ist ein überzeugender Ansatz des Autors, den „Psychoboom“ und den Prozess der Therapeutisierung nicht anhand der Psychoanalyse oder der Tiefenpsychologie, sondern mittels eines zunächst noch nicht etablierten Verfahrens und dessen Anwendungskontexten zu untersuchen. So gelingt es Elberfeld, das Bedingungsgefüge der zunehmenden Therapeutisierung plausibel aufzuschlüsseln. Dabei entsteht ein komplexes Bild mit einer Vielzahl an Querbezügen und Rückkopplungen, mit Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten. Leicht ginge man als Leser:in bei diesen mehrfachen Verschachtelungen verloren, hätte Elberfeld seine rund 600 Seiten füllende Argumentation nicht in drei etwa gleich gewichtete, in sich geschlossene Teile untergliedert.

Der erste Teil „Soma – Psyche – Soziales“ ist eine Reise durch die Geschichte der Psychotherapie(n) des 20. Jahrhunderts in den USA und in Deutschland. Dabei werden das medizinische Krankheitsmodell der Psychiatrie, die Formulierung eines psychischen Modells von Krankheit im Zuge des Aufkommens der Psychoanalyse sowie der Bedeutungsgewinn alternativer, nämlich sozialer Deutungsansätze vorgestellt. Hier zeigt Elberfeld zum einen, wie sich das Wissen über psychische Krankheit und seelische Gesundheit zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1960er-Jahren ausdifferenzierte. Zum anderen wird deutlich, dass die Vertreter der diversen Psy-Disziplinen heftige Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten, Kriterien der Wissenschaftlichkeit und die sozialrechtliche Anerkennung von Behandlungsverfahren führten.

Der zweite Teil „Ausbildung des therapeutischen Feldes“ fokussiert die an Psychotherapie interessierten Akteure und deren Konflikte in den „langen“ 1970er-Jahren. Genauer betrachtet werden die Reformbestrebungen in der Psychiatrie, die Professionalisierung der Psycholog:innen und die Expansion des Beratungswesens. Der Blick fällt damit zugleich auf die unterschiedlichen Berufsgruppen in der Behandlung psychischer Auffälligkeiten sowie auf die Pädagogik und die Soziale Arbeit. Hier wird deutlich, wie sich die Nervenheilkunde unter Einfluss des post-analytischen Wissens neu justierte und wie parallel dazu in immer mehr nicht-medizinischen Anwendungskontexten auf dieses Wissen zurückgegriffen wurde. Laut Elberfeld forcierte dabei die von der Ärzte-Lobby und den Analytikern betriebene „Exklusion zahlreicher Schulen aus dem institutionalisierten und regulierten Gesundheitssystem“ (S. 246) die gesellschaftliche Verbreitung des neuartigen Psychowissens. Sie zwang die bei den Krankenkassen nicht zur Abrechnung Berechtigten dazu, sich – ökonomisch einträgliche – Nischen zu schaffen. Besonders aufschlussreich sind dabei Elberfelds Ausführungen zur sozialen Differenzierung von Beratung und zur Neukonstitution des „armen Subjekts“ – zeigt sich doch hier, wie sehr gewandelte Vorstellungen von den Aufgaben und Finanzierungsmöglichkeiten des Wohlfahrtsstaates sowie neue Ansichten über soziale Probleme an den „Rändern“ der Gesellschaft den Aufstieg des post-analytischen Wissens begleiteten und die Ausweitung der therapeutischen Angebote auf nicht-bürgerliche Schichten beförderten. Als zentrale Trägergruppe des Therapeutisierungsprozesses rückt Elberfeld daraufhin das Alternative Milieu in den Fokus. Dort habe sich zuerst ein Grauer Markt für Psychotherapie etabliert, und die Pflicht zur Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft habe zügig den Status einer Norm erlangt. Damit bestätigt Elberfeld die Thesen der wegweisenden Studie von Maik Tändler (2016) zum „therapeutischen Jahrzehnt“.1

Erst im dritten Teil und damit nach mehr als der Hälfte des Buches werden die „Familientherapie und die Therapeutisierung der Familie“ in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt. Bis dahin erschließt sich beim Lesen nicht sogleich, warum bestimmten Episoden und Aspekten innerhalb der ersten beiden Großkapitel besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Doch letztlich gelingt es Elberfeld dann doch, die ausgelegten Argumentationsfäden wieder aufzunehmen und erkenntnisfördernd miteinander zu verbinden. Nun zeigt sich nämlich, wie die bis dahin abgehandelten Wandlungsprozesse in den Psy-Disziplinen und der westdeutschen Gesellschaft die Etablierung der Familientherapie begünstigten.

Diese Therapieform erlebte in den 1970er-Jahren einen steilen Aufstieg und in den 1980er-Jahren einen kontinuierlichen institutionellen Ausbau. Ihren Vertreter:innen gelang es immer wieder, an gesellschaftspolitische Debatten anzuknüpfen, sodass sie beispielsweise von der Neujustierung der Familienpolitik, dem allgemeinen Trend zur Versozialwissenschaftlichung und dem interdisziplinären Boom der Familienforschung profitierten. Elberfelds Schilderung der inhaltlichen Ausdifferenzierung und der epistemologischen Verschiebungen zeigt, dass während der Etablierungsphase, dem Jahrzehnt ab Ende der 1960er-Jahre, zunächst noch unterschiedliche Konzepte und Methoden nebeneinander bestanden, seit Ende der 1970er-Jahre aber ein systemischer Ansatz Verbreitung fand, der schließlich die anderen familientherapeutischen Zugänge verdrängte. Stand die Familientherapie anfänglich noch unter dem Einfluss psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Ansätze, wurde sie zunehmend von kybernetischen Denkmodellen und Vokabeln erfasst und durch diese gravierend verändert. Mit der „konstruktivistischen Kehre“ Mitte der 1980er-Jahre rückten schließlich Fragen der Selbstreferenz, der Selbstregulation und der Selbstorganisation in den Vordergrund. Je mehr die Familientherapie den Fokus vom innerpsychischen Geschehen Einzelner auf die Beziehungen in der sozialen Gruppe verschob, auf deren Kommunikationsmechanismen und deren Fähigkeit, sich eigene Regeln zu geben, desto stärker rückten auch noch die letzten verbliebenen psychoanalytischen Begriffe und Konzepte in den Hintergrund. Nun wies die Familientherapie ein erkennbar eigenes, von den individualtherapeutischen Richtungen klar zu unterscheidendes Methodenarsenal auf.

Elberfeld stellt die Familientherapie als die „von den großen Schulen der Psychotherapie […] am wenigstens normative und normierende“ dar, „weil sie sich dank Kybernetik und Konstruktivismus radikal vom medizinischen Krankheitskonzept löste und ihre therapeutische Praxis wie kaum ein anderes Verfahren selbstkritisch reflektierte“ (S. 41). Freilich, und auch darauf verweist Elberfeld, waren beispielsweise kybernetische Modellvorstellungen durchaus mit normativen Aussagen kompatibel. So wurden etwa „asymmetrische Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen, starre Rollenbilder, das Unvermögen, Gefühle zu thematisieren [und] autoritäre Entscheidungsprozesse“ (S. 531) als dysfunktional für das nach einem Fließgleichgewicht strebende System „Familie“ verstanden und so traditionelle Familien- und Rollenvorstellungen pathologisiert. Die Familientherapeut:innen trugen, trotz anderweitiger Bekundungen, eigene Vorstellungen von erfüllter Partnerschaft und gelungener Erziehung an die Lebensweise ihrer Klient:innen heran. Sie etablierten implizit und explizit eine Norm für „gesunde“ Beziehungen, die darauf basierte, über Emotionen zu sprechen und, wie es der einflussreiche Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter 1976 formulierte, „alle nebeneinander einigermaßen gleichgewichtig aktiv hervortreten“ zu lassen.2

Wenn Elberfeld konstatiert, dass sich die Familientherapie „mehr oder weniger in hegemoniale Diskurse der westdeutschen Gesellschaft“ einfügte (S. 481), dann widerspricht das nicht der Beobachtung, dass die Familientherapeut:innen den Wandel der Rollenvorstellungen und Erziehungsleitbilder begrüßten und zu deren Advokat:innen wurden. Die Effekte waren ambivalent. Die Familientherapie brach nicht nur mit den vorherrschenden Krankheitsmodellen und den herkömmlichen Konzeptionen wissenschaftlicher und therapeutischer Expertise. Den Adressat:innenkreis ihres Wissens und ihrer Praktiken weit über das Symptome zeigende Individuum hinaus einzubeziehen, hatte zwar eine begrüßenswerte Entmoralisierung und Entbiologisierung psychischer Auffälligkeiten zur Folge. Die Auflösung zuvor eindeutiger gezogener Grenzen zwischen „normal“ und „krank“ machte allerdings jede Familie und jedes Familienmitglied potentiell zum Interventionsfall. Etabliert wurde ein dauerhafter Bedarf nach Beratung. Die Familientherapeut:innen schlussfolgerten aus dem Wegfall scheinbar überzeitlicher Normen für die Gestaltung einer Intimbeziehung sowie deren steigender Komplexität und Kontingenz, dass eine aufwendige und stetige Arbeit an sich selbst und den eigenen sozialen Beziehungen unabdingbar sei. Vorstellungen von Selbstverwirklichung und Selbstregulation hatten ursprünglich sicher einen emanzipatorischen Kern, erhöhten aber letztlich auch das Ausmaß der Inpflichtnahme des Einzelnen. Die Betonung von Eigeninitiative und Eigenverantwortung erwies sich, so Elberfeld weiter, zudem als anschlussfähig an die aufziehende neoliberale Gouvernementalität mit ihren veränderten Subjektpositionen. Die Familientherapie im Speziellen und der „Psychoboom“ im Allgemeinen hätten so maßgeblich dazu beigetragen, den Modus der Subjektivierung von einer starren, binär codierten Normierung zu einer flexibleren, graduell differenzierenden Normalisierung zu verschieben.

Die Studie ist eine sehr lesenswerte Untersuchung der Ausbreitung, Diffusion und Verwendung psychotherapeutischen Wissens. Anhand der Familientherapie verdeutlicht Elberfeld, wie sich ein ursprünglich der medizinischen Behandlung und Heilung psychischer Erkrankungen dienendes Wissen aus diesem Kontext löste; wie es Einfluss auf den Lebensalltag sich als psychisch „gesund“ verstehender und so üblicherweise auch klassifizierter Menschen gewann und wie dies deren Arbeit am eigenen Selbst respektive deren soziale Beziehungen beeinflusste. Mit genauem Blick auf die sich wandelnden historischen Konstellationen gelingt es Elberfeld vortrefflich, die Therapeutisierung in ihrer prinzipiellen Offenheit zu zeigen. Sie wird als Prozess erkennbar, an dem zahlreiche Akteur:innen mit unterschiedlichen Interessen beteiligt waren und der von gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst wurde, die mit ihm erst einmal nichts zu tun hatten. So treten die spezifischen Ermöglichungsbedingungen und die dynamisierenden Faktoren im familienfokussierten Bereich des therapeutischen Feldes deutlich hervor. Elberfeld bereichert die bisherige Forschung zum „Psychoboom“ in der Bundesrepublik, indem er diesen „Boom“ in einen größeren geografischen und zeitlichen Zusammenhang stellt. Damit ebnet er zugleich den Weg zu weiteren Untersuchungen über das Ende der „langen“ 1970er-Jahre hinaus. Für diesen Zeitraum regt er an, stärker die Verquickung von Therapeutisierung, Emotionalisierung, Ökonomisierung und Politisierung des Selbst in den Blick zu nehmen. Immer wieder beeindruckt auch seine gekonnte Einbettung in die zeithistorische Forschung. Inwiefern die von Elberfeld auf Basis eines wissensgeschichtlichen und diskursanalytischen Vorgehens aufgestellten Thesen vielleicht doch noch modifiziert werden müssen, werden indes wohl erst Forschungen zu den post-analytischen Verfahren klären, die neben veröffentlichten Stellungnahmen auch nichtveröffentlichtes Quellenmaterial in die Analyse einbeziehen. So gesehen ist Jens Elberfelds „Wissensgeschichte der Therapeutisierung“ ein Lesepublikum zu wünschen, das sich von diesem kenntnisreichen Buch zu weiteren Studien anregen lässt.

Anmerkungen:
1 Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016.
2 Horst-Eberhard Richter, Zwei Jungen, die nicht einkaufen wollen. Tonbandprotokoll einer psychoanalytisch orientierten Familienberatung, in: Psychologie Heute, September 1976, S. 36–42, hier S. 42 (zit. nach Elberfeld, S. 542).